Gabriele D'Annunzio war einer der wichtigsten italienischen Schriftsteller
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Stark beeeinflusst von der
Philosophie Friedrich Nietzsches schrieb er zahlreiche Romane, Dramen und
Gedichte, in denen die Sinneslust und die Idee des „Übermenschen“ im
Vordergrund standen, wobei er die Empfindungen in wortgewaltiger Sprache zum
Ausdruck brachte. D’Annunzios ästhetisierender Stil spiegelt sein
extrentrisch-romantisches Wesen und seinen bewegten Lebenswandel wider.
D'Annunzio war auch politisch sehr aktiv. Im Jahre 1915 gehörte er,
zusammen mit Mussolini, zu den lautstärksten Vertretern des italienischen
Eintritts in den ersten Weltkrieg und es blieb auch nicht nur bei Worten: zwischen 1916 und
1920 war D'Annunzio der Protagonist mehrerer spektakulärer politischer
Propagandaktionen. Eine
davon war der Flug über Wien.
Im Jahre 1918, kurz vor dem Ende des 1. Weltkrieges, vollführte Gabriele D'Annunzio eine
seiner spektakulärsten Aktionen: Mit insgesamt 11 Flugzeugen (10 Einsitzer und 1 Zweisitzer, in dem
D'Annunzio mitflog) startete er am 9. August um 5.50 Uhr vom Flugplatz San
Pelagio in der Provinz Padua zu einem Propagandaflug nach Wien, zur Hauptstadt
des Kriegsgegners Österreich. Drei der Flugzeuge mussten schon auf dem
Hinflug, noch über italienischem Territorium, notlanden, ein viertes kurz
vor Wien (der Pilot wurde von den Österreichern gefangen genommen), so dass
schließlich noch 7 Flugzeuge über Wien ankamen, wo sie
aus etwa 600-800 Meter Höhe 300.000 Flugblätter mit propagandistischem Inhalt abwarfen.
Das Oberkommando der italienischen Streitkräfte hatte diesen Flug nach
anfänglichem Zögern gebilligt. Der Flug sollte einem rein "politischen und
demonstrativen Zweck" dienen und zwar "die unangefochtene
Macht" der italienischen Luftwaffe im Wiener Luftraum als "Symbol der
angeborenen Energie der italienischen Rasse" zu demonstrieren.
Eins der beiden Flugblätter (beide mit den Farben der italienischen Fahne
bedruckt), das in 50.000 Exemplaren abgeworfen wurde, war von D'Annunzio
selbst geschrieben worden. Der Text war im typischen schwülstigen
Propagandastil von D'Annunzio abgefasst, halb reißerisch, halb pathetisch,
und endete mit dem Satz: „Das Drohen der Schwinge des jungen italienischen
Adlers gleicht nicht der finsteren Bronze im morgendlichen Licht. Die
unbekümmerte Kühnheit wirft über Sankt Stephan und den Graben das
unwiderstehliche Wort ab: Viva l’Italia!" Dieses Flugblatt wurde auf
italienisch, ohne deutsche Übersetzung, abgeworfen und die Wiener verstanden
wohl herzlich wenig davon und wenn, dann hat es sie sicher kaum überzeugt.
Das muss wohl in der Vorbereitung auch Ugo Ojetti, einem der Mitstreiter von D'Annunzio,
klar gewesen sein, denn er schrieb noch ein zweites Flugblatt (mit deutscher
Übersetzung), das in 250.000 Exemplaren abgeworfen wurde und das klarer und
verständlicher war. Da hieß es:
"Wiener, lernt die Italiener kennen! Wenn wir wollten, könnten wir ganze
Tonnen von Bomben auf Eure Stadt hinabwerfen, aber wir senden Euch nur einen
Gruß der Trikolore! Wir Italiener führen keinen Krieg gegen Kinder, Frauen
und Alte. Wir führen Krieg gegen eure Regierung, die ein Feind der
Unabhängigkeit der Völker und nicht in der Lage ist, euch Brot und Frieden
zu garantieren [...]" Der Text appellierte auch an die Intelligenz der
Wiener und forderte sie auf, den Versprechungen der preußischen Generäle
keinen Glauben mehr zu schenken.
Der Anflug unbekannter Flugzeuge war zwar von zwei Flugzeugen der
österreichischen Flugabwehr bemerkt worden, aber es war am Anfang nicht
möglich, ihre Herkunft zu identifizieren und so wurden keine Gegenmaßnahmen
ergriffen. Selbst in Wien hielten viele die damals noch sehr
seltenen Flugzeuge zunächst für österrreichisch.
Erst bei der Rückkehr nach Italien eröffnete die Flugabwehr von Ljubljana das Feuer auf die
Flugzeuge, allerdings ergebnislos. So landete die Staffel von D'Annunzio gegen 12.30 Uhr,
nach 7 Stunden und ca. 1.000 km Flug, wieder am Ausgangspunkt San Pelagio.
Das Habsburgerreich stand zwar zu jenem Zeitpunkt (August 1918) kurz vor dem
militärischen und politischen Zusammenbruch, aber Italien sah im Krieg gegen
Österreich auch nicht gerade gut aus, standen doch die österreichischen
Truppen im August noch weit vorgeschoben auf italienischem Territorium. Die
militärisch unbedeutende und folgenlose, wenn auch zweifellos sehr
mutige und perfekt inszenierte Propagandaaktion war für die hungernde Bevölkerung zwar
spektakulär, aber doch wohl eher eine Randerscheinung der sich
abzeichnenden Katastrophe.
In Italien dagegen hatte diese Aktion eine enorme Resonanz. D'Annunzio und die
anderen sieben Piloten wurden
überall begeistert gefeiert. Die Aktion war zwar für den Kriegsverlauf völlig
bedeutungslos, wurde aber propagandistisch weidlich ausgeschlachtet. 1924 wurde D’Annunzio auf Vorschlag der faschistischen
Regierung durch König Viktor Emanuel III. sogar geadelt.