Seit gut 70 Jahren werden die politischen Entscheidungen in Deutschland auf
Bundesebene im Wesentlichen stets von der CDU oder der
SPD gefällt, manchmal
auch von beiden Parteien zusammen und oft mit Beteiligung der
FDP oder der
Grünen. Andere Parteien, wie die
Linke oder die
Alternative für Deutschland, haben bislang nur auf regionaler
oder lokaler Ebene Bedeutung. Das macht die deutsche Politik relativ übersichtlich und die
Deutschen haben sich, wohl oder übel, daran gewöhnt.
Von Klarheit und
Übersichtlichkeit gibt es in der italienischen Politik ziemlich wenig. Die italienische Parteienlandschaft ist stark
zersplittert und ändert sich ständig (Namensänderungen, Zusammenschlüsse,
Spaltungen, wechselnde Wahlbündnisse). Neue Parteien - oft reine
Protestparteien - schießen aus dem Boden wie die Pilze im Herbst, andere
Parteien verschwinden dagegen sang- und klanglos von der politischen Bühne.
Von den Parteien, die bis Anfang der 1990er Jahre
in Italien existierten und die bis dahin die Politik dominierten, ist heute
keine Spur mehr vorhanden. Und um die heutige politische Situation in
Italien zu verstehen, muss man genau da anfangen: beim
politischen Erdbeben, das in den 1990er
Jahren die italienische Politik zutiefst erschütterte.
1991 - die erste Protestwelle:
Mani pulite (saubere Hände) war der Name
einer Serie von Prozessen, die in den 1990er Jahren ein weit verzweigtes
System von Korruption und
illegaler Parteienfinanzierung offen
legten und große Teile der politischen Welt Italiens betrafen. Das Vertrauen
in die politischen Parteien und Institutionen wurde dadurch tief
erschüttert.
Ein Treffen der Lega Nord (2011), über der Bühne: "Verso la libertà"
(Der Freiheit entgegen) Foto: Fabio Visconti
Die erste Reaktion war die Gründung der
Lega Nord (Leader
Umberto Bossi) im
Januar 1991, einer separatistischen Partei, die die steigende
Unzufriedenheit über die politischen Skandale auf das in Norditalien
verhasste Rom ablenkte und ernsthaft die
Abspaltung einer von ihr erfundenen Region
Padanien erreichen wollte. Eine Zeit lang erlangte die Lega Nord in
einigen Regionen erhebliche Erfolge (im Norden um die 25%, im Zentrum und im
Süden allerdings nur 0-1%), aber diese
erste Protestwelle konnte nichts
Wesentliches erreichen, auch aufgrund Ihrer völlig unrealistischen
Forderungen.
1994 - die zweite Protestwelle:
Eine ernsthaftere Antwort auf die Probleme Italiens
schien die 1994 gegründete Partei
Forza Italia (unter der Führung von
Silvio Berlusconi) zu sein, die von ihrer
Gründung im Januar 1994 bis zur
Parlamentswahl im März 1994 in nur zwei
Monaten von 0% zur größten Partei
Italiens (mit 21%) wurde.
Diese
zweite Protestwelle basierte auf der weit
verbreiteten Illusion, dass ein erfolgreicher Industrieller (Berlusconi war
einer der reichsten Männer Italiens und Gründer des einflussreichen
Medienkonzerns Mediaset) auch ein guter
und effizienter Ministerpräsident sein würde. Seine großspurigen Versprechen
(weniger Steuern, weniger Bürokratie, höhere Renten) konnte er allerdings nie realisieren,
obwohl er vier Mal mit verschiedenen Koalitionen Ministerpräsident von Italien war (1994–1995, 2001–2005,
2005–2006 und 2008–2011). Mehr noch, im Jahr 2011
brachte seine Politik Italien an den Rand des Staatsbankrotts, der nur durch
eine neue Regierung aus parteilosen Fachleuten unter dem EU-Kommissar
Mario Monti abgewendet werden konnte.
Aber parteilose Fachleute werden in der italienischen Politik nur schlecht
geduldet und so wurde Monti, nachdem er mit einem radikalen Sparpaket seine
unbeliebte Schuldigkeit getan hatte, nach nur einem Jahr an der Regierung
wieder das Vertrauen entzogen.
Die schnell verblassende Faszination
des "Machers" Berlusconi, der außerdem immer mehr in alle Arten von
Skandalen verwickelt wurde und die Unfähigkeit der stark zersplitterten
linken Opposition ließ eine neue Protestwelle,
die dritte seit 1990, anwachsen.
2009 - die dritte Protestwelle:
Im Jahr
2009 gründete der bekannte Kabarettist
Beppe Grillo die Bewegung Movimento 5
Stelle, die mit ihren V-Days die
traditionelle italienische Politwelt schockierte. Das
V stand dabei für
Vaffanculo, die Kurzform einer obszönen
Beleidigung (auf Deutsch etwa „Fick dich in den Arsch“), die auf alle
anderen politischen Parteien gemünzt war. Ihre politische Linie war von
Populismus, Antikorruption, direkte auf Internet
basierender Demokratie, radikaler Ökologismus, EU-Skepsis und
Globalisierungskritik geprägt. In wenigen
Jahren erlebte diese Bewegung einen fulminanten Aufstieg: 2013 wurde sie mit
25,6% die größte italienische Partei und
5 Jahre später erreichte sie sogar 32,7%.
Beppe Grillo bei einer Wahlkampfrede in Turin (2010) Foto:
Giorgio Brida
Aber nach knapp 3 Jahren an der Regierung
in zwei verschiedenen Regierungskoalitionen (ironischerweise einmal mit der
Lega, und einmal mit der
Partito Democratico, d.h. mit zwei
Parteien, die sie bis kurz vorher noch wütend beschimpft hatten) war auch
die Glaubwürdigkeit des "Movimento" bei vielen Wählern stark gesunken.
Gleichzeitig war Italien, auf dem Höhepunkt der COVID-19-Pandemie, wieder
einmal an dem Punkt, wo nur eine neue Technokratenregierung der „nationalen
Einheit“ - (unter Mario Draghi, Präsident
der Europäischen Zentralbank) Italien aus der Krise helfen konnte.
Nachdem das "Movimento 5 Stelle" ein Jahr lang auch die Draghi-Regierung
mitgetragen hatte, brachte sie, zusammen mit den Rechtsparteien, Draghi zu Fall.
Ergebnis: Das
Movimento 5 Stelle war von 32,7%
(2013) auf 15,4% (2022) abgerutscht, nachdem
es sich unter
Giuseppe Conte zu einer (fast) normalen
populistischen Linkspartei entwickelt hatte. Die
Lega (nicht mehr
Lega Nord) hatte sich inzwischen von
einer Separatistenpartei unter Matteo Salvini
zu einer strammen Rechtspartei entwickelt, war aber vom Rekordergebnis bei
den Europawahlen 2019 (32,7%) bis auf
8,8% bei den Parlamentswahlen 2022
abgemagert. Forza Italia, das sich einige
Jahre lang Popolo della Libertà ("Volk
der Freiheit") nannte, dann aber wieder zum ursprünglichen Namen
zurückgekehrt war, ist von 37,4% (2008)
auf 8,1% (2022) abgerutscht und hat immer
weniger Gewicht in der italienischen Politik.
2022 - die vierte Protestwelle:
Nach derartig vielen
Auf unf Ab, kurzlebigen Begeisterungen und herben Enttäuschungen, sollte man
meinen, dass das italienische Wahlvolk müde geworden ist. Aber nein...
Es scheint fast so, dass sich ein großer Teil der Italiener immer
wieder an neue Hoffnungen klammert und dass das ständig vorhandene latente
Protestpotential immer neue Ventile sucht. Nach
Lega, Forza Italia und
Movimento 5 Stelle ist (wieder einmal in
kürzester Zeit) ein neuer Stern am Himmel der italienischen Politik
aufgegangen: Fratelli d'Italia ("Brüder
Italiens", der Name ist ein Zitat aus dem Text der italienischen
Nationalhymne).
Die Wurzeln dieser Partei liegen in der nie untergegangenen
Mussolini-Nostalgie vieler Italiener, die aber in der Nachkriegszeit keine bedeutenden Wahlergebnisse
erzielen konnte. Seidem
Giorgia Meloni das Ruder dieser postfaschistischen Partei in die
Hand genommen hat, ging es mit ihr aufwärts. Zunächst langsam, dann aber,
vor allem seitdem Fratelli d'Italia die einzige Oppositionspartei unter der
Regierung von Mario Draghi war, ganz rasant: von
4,4% (2018) auf 26% (2022).
Giorgia Meloni hat in dieser Zeit geschickt versucht, den ursprünglich neofaschistischen Charakter
ihrer Partei wenigstens teilweise vergessen zu lassen und den Fratelli
d'Italia eine nationalkonservative politische Linie zu geben.
Wieder
einmal eine neue vehemente Protestwelle,
die vierte seit den 1990er Jahren. Ob auch diese neue Hoffnung vieler
Italiener letztendlich in Enttäuschung umschlägt, wird sich in den nächsten
Jahren zeigen
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