Wer die italienische Volksfrömmigkeit verstehen will, sollte Padre Pio
kennen. Seine Verehrung ist ein Phänomen, vergleichbar nur mit der von
internationalen Popstars. Er ist der einzige Heilige, über den auch in der
italienischen Regenbogenpresse gesprochen wird, Fußballstars, Prominente aus
Politik und Showbuisness pilgern häufig zum Wallfahrtsort San Giovanni Rotondo - und
lassen sich hier fotografieren - und unzählige
Massenprodukte tragen seinen Namen.
Francesco Forgione
(1887–1968), später
Padre Pio
genannt, geboren in
Pietrelcina,
einer kleinen Stadt in der Region
Kampanien, war ein Kapuziner und
Ordenspriester. Ab 1918 lebte er in
San Giovanni
Rotondo in
Apulien,
wo er sich im gleichen Jahr zum ersten Mal der Öffentlichkeit mit den
angeblichen blutenden Wundmalen Christi präsentierte und dann fast nur noch mit verbundenen Händen vor seine
Anhänger trat. Er behauptete auch, in seiner Mönchszelle mit dem Teufel zu
ringen und wurde später vor allem als Wunderheiler bekannt.
Als in den schon
früh
entstehenden volkstümlichen Anekdoten über ihn mehrere offensichtliche
Widersprüche auftraten, wurde ihm, um diese zu entkräften, die Gabe der Bilokation zugesprochen, d.h. der
Fähigkeit, an zwei verschiedenen Orten gleichzeitg anwesend zu sein.
In den folgenden Jahrzehnten schickte der Vatikan insgesamt drei
Untersuchungskommissionen nach San Giovanni Rotondo, um den Fall zu untersuchen
und alle drei kamen mehr
oder weniger zu dem
Ergebnis, dass es sich bei Padre Pio um einen hysterischen Scharlatan
handelt, der seinen Kritikern gegenüber auch schon mal handgreiflich wurde.
Später kamen noch Anklagen wegen persönlicher Bereicherung und unmoralischer
Lebensführung dazu. Aber all das tat seiner wachsenden Beliebtheit keinen
Abbruch, im Gegenteil. Die Erzählungen über angebliche Wunderheilungen verbreiteten
sich in ganz Italien und der Andrang von Hilfesuchenden nahm immer mehr zu, besonders nach seinem Tod im Jahr
1968. Das Volk wollte einen Heiligen (die Einwohner von San Giovanni Rotondo
natürlich ganz besonders) und bekam ihn schließlich, trotz aller Widerstände: Im Jahr
2002 sprach
Papst Woytila den Sonderling
aus Apulien heilig: die Volksfrömmigkeit hatte über die
Vernunft gesiegt und der Pilgerstrom nach San Giovanni Rotondo erlebte einen weiteren Zuwachs.
Die Stadt selbst (ca. 27.000 Einwohner) bietet dem Besucher wenig
Interessantes und der gesamte ununterbrochene Besucherstrom (etwa 6 Millionen
pro Jahr) zielt auf die erst 2004 fertiggestellte große
Wallfahrtsbasilika San Pio da Pietrelcina,
die innen 6.500 Personen Platz bietet, auf dem weiten Vorplatz noch mal
weiteren 30.000. Ihr Bau dauerte 10 Jahre und kostete 36 Millionen
Euro. Die Krypta mit dem 60 Zentner schweren Sarg des
Padre Pio aus blauem Granit und der lange Korridor, der zu ihr hinführt, sind auf 2.000 Qudratmetern mit purem Gold überzogen.
Die ihm gewidmete Wallfahrtsbasilika
wird
vom Franzikanerorden verwaltet; der unglaubliche Luxus, der hier beim Bau
getrieben wurde, steht eigentlich in krassem Widerspruch zur
Philosophie
des Ordensgründers
Franz von Assisi, der Armut
und Bescheidenheit lebte und propagierte. Was heute aber niemenden stört. Die
italienische Volksfrömmigkeit ist immun gegen solche Widersprüche.
Padre
Pio ist heute in Italien zu einer Autorität geworden,
die jeder kennt und kaum jemand wagt es, sie öffentlich zu hinterfragen. Schon gar nicht in der Politik, die ja schließlich von Wählerstimmen lebt.