"Jedes echte Kunstwerk wird in geweihter Stunde empfangen,
oft dem Künstler unbewusst aus innerem Drange des Herzens."
Diese Worte von Caspar David Friedrich
(1774-1840) können gut als Leitlinie zum Verständnis des Bildes seines Zeitgenossen
Johann Friedrich Overbeck (1789-1869) dienen. Es wurde sicherlich "aus innerem Drange" geschaffen, und vieles von dem, was es uns sagen kann, ist wohl unbewusst in das Bild eingeflossen.
Overbeck in Italien:
Overbeck gehörte Anfang des letzten Jahrhunderts zu der so genannten "deutschen Künstlerkolonie" in Rom, in der er, zusammen mit einigen Gleichgesinnten, die Gruppe der "Nazarener" bildete, die in gewisser Weise den radikalen Flügel der Künstlerkolonie darstellte. Diese Künstler suchten in Italien Inspiration: die Landschaften, die Nähe zur Kunst der Antike und der Renaissance und eine romantische Sehnsucht nach dem Unbekannten waren die Gründe, die sie nach Italien zogen.
Overbeck war aber nicht nur deshalb nach Italien gekommen, er suchte in Italien auch ein tieferes mystisch-religiöses Erlebnis. Seine Reise nach Italien, wo er für den Rest seines Lebens blieb, war auch eine Art Flucht in die Vergangenheit, in die Zeit des mittelalterlichen Kaisertums, in der es noch einen Glauben und eine Kirche gab, in eine heile Welt und ein Ideal, das er in der deutschen Wirklichkeit, die von der beginnenden industriellen Revolution gekennzeichnet war, nicht mehr wiederfand. Die Religiosität, die er in Italien suchte und fand (was nicht bedeutet, dass sie auch wirklich so existierte), begeisterte ihn. Er, der früher Protestant war, wurde ein fanatischer Katholik, der allen Ernstes die Wiedereinführung der Inquisition und die öffentliche Ausprügelung heidnischer Abtrünniger am Pranger forderte. Der aufkommende Realismus ließ den für zwanzig Jahre bekanntesten deutschen Künstler jedoch nach und nach in Vergessenheit geraten.
Was der Künstler mit seinem Bild ausdrücken wollte:
Was an dem Bild auffällt, ist die harmonische
Komposition, die Symmetrie: auf der linken Seite die dunkelhaarige
Italia, hinter ihr eine typisch italienische Landschaft mit einer Kirche
im romanischen Stil; rechts die blonde Germania, mit einer typisch
deutschen Stadtlandschft, in der eine gotische Kirche dominiert. Der
goldgelbe Saum des Kleides der Italia erinnert an die Sonne des Südens,
der pelzbesetzte Saum am Kleid der Germania an die kalten Winter des
Nordens. Der Malstil ist sanft und weich, an Raffaello und
andere italienische Maler des 16. Jahrhunderts erinnernd.
Der Kopf der Madonna, links auf einem Gemälde
von Schadow (1818), rechts auf einem Gemälde von
Raffaello, (1506)
Das liebevolle
Verhältnis der beiden Frauen strahlt Ruhe und Wärme aus, ein Symbol für
die ersehnte Synthese von Nord und Süd,
von mittelalterlich-deutscher Kunst und dem Stil der italienischen
Frührenaissance, von Dürer und Botticelli, ein Symbol für die angestrebte,
religiös getränkte Harmonie. Zu beachten sind die Farben des Kleides der
Italia (rot-weiß-blau), die die typischen Farben der mittelalterlichen
Madonna-Darstellungen sind, und ihre Kopfhaltung, die als Motiv genau so in
Dutzenden anderer Madonna-Bildern zu beobachten ist (siehe oben).
Es ist ein zutiefst romantisches Bild, das auch heute noch eine gewisse
Faszination ausübt. Die erste Reaktion vieler Betrachter war, und ist
auch heute noch, ein bewunderndes: "Wie schön...". Und dies, auch wenn
die Grenze zum Kitsch - jedenfalls für uns heute - gefährlich nahe
erscheint.
Aber das Bild sagt noch sehr viel mehr...
...und das vielleicht nicht unbedingt in beabsichtigter Weise. Es gibt einiges, was der Künstler
möglicherweise "unbewusst, aus innerem Drange des Herzens" aufs Bild bringt. So harmonisch-gleichgewichtig, wie es auf den ersten Blick scheint, ist das Bild nämlich nicht. Die deutsch-gotische Kirche (die ja für Overbeck nicht ganz unwichtig war) rechts ist viel heller und ragt viel höher in den Himmel als die italienisch-romanische Kirche, die sich demgegenüber fast am Boden duckt.
Auch die beiden Figuren selbst sind, wenn man sie genauer anschaut, nicht gerade gleichgewichtig-ausgewogen dargestellt. Üblicherweise wird den Südländern ein offenes, lebhaftes Temperament zugesprochen, den Nordländern eher ein verschlossenes und reserviertes. Hier scheint es genau umgekehrt: Germania ist eindeutig die aktivere, sie hat die Hand von Italia ergriffen, sie beugt sich zu ihr, scheint ihr auch etwas zu sagen. Italia ist zwar etwas etwas größer als Germania, ist aber deutlich passiv. Fast schüchtern zieht sie die linke Hand zurück, als wolle sie nicht auch die zweite Hand der Germania überlassen. Ihr Blick ist scheu nach unten gerichtet, während Germanias Blick ins Weite schweift, sie sieht aus dem Bild heraus, sie sieht in die Welt. Italia wirkt dagegen in sich gekehrt und merkwürdig hilflos
Es scheint fast, als müsse Germania Italia trösten.
Italien war das Land der Overbeckschen Träume:
Italien war das Objekt der Overbeckschen Träume, und als ein solches völlig
vergeistigtes Objekt erscheint sie auf dem Gemälde. Italien ist Geist, Ideal
(=Madonna), Germania ist real und wirklich (grün und braun, die Farben ihrer
Kleider, sind die Farben der Natur). Die Kommunikation scheint ziemlich
einseitig zu sein, fast hat man das Gefühl, dass sich Germania der Italia
ein wenig aufdrängt. Trotz der idealisierenden Überhöhung Italiens scheint
Germania dominanter zu sein.
Overbecks Leitmotiv war: Am italienischen Wesen soll
die Welt genesen (auch wenn er eine recht eigenwillige Idee vom
"italienischen Wesen" hatte). Dennoch ist es ihm in seinem Bild nicht so
recht geglückt, die Vorstellung von der weltbeglückenden Mission
Germanias zu verstecken - wenn auch in der Form des
mittelalterlichen Kaisertums, das Overbeck verehrte.