Die Reise Goethes nach Italien (September 1786 - Juni 1788) war eine Art
Flucht. Die langjährige Arbeit als Minister in Weimar hatte seine
literarische Kreativität blockiert und er fühlte die Notwendigkeit eines
radikalen Tapetenwechsels. Italien war schon seit der Kindheit sein Traum gewesen, und er hoffte, dass eine solche
stimulierende Umgebung zu seiner
künstlerischen Wiedergeburt führen würde.
Was Goethe in Italien suchte, war nicht so sehr das Italien von Michelangelo
und Leonardo, der Malerei und der Architektur der Renaissance und des Barock. Goethe suchte das
klassische Italien der griechisch-römischen Kultur und als er in Verona zum
ersten Mal ein Monument der römischen Antike sah, die
Arena, war er glücklich. Und in Rom fühlte er sich sofort wie zu Hause, als ob
er nie woanders gelebt hätte.
Eine Skizze Goethes der Burgruine von Malcesine,
vom Boot aus gezeichnet.
Als er auf der Hinreise in Malcesine (an der Ostküste des Gardasees), das damals an der Grenze zwischen der
Republik Venedig und Österreich lag, übernachtete und am nächsten Morgen die Burgruine
der Stadt zeichnete, hielten ihn
die Einwohner von Malcesine anfangs für einen österreichischen Spion, der mit seinen
Zeichnungen im Auftrag
des österreichischen Kaisers Josef II einen eventuellen Angriff vorbereiten sollte und so
musste er sich vor der Bevölkerung und vor den örtlichen Autoritäten
verteidigen. Zum Glück klärte sich das Missverständnis
rasch auf.
Im Folgenden ein Ausschnitt aus dem Reisetagebuch von Goethe, wo er
diesen Zwischenfall schildert:
Heute früh um drei Uhr fuhr ich von Torbole weg mit zwei Ruderern. Anfangs
war der Wind günstig, daß sie die Segel brauchen konnten. Der Morgen war
herrlich, zwar wolkig, doch bei der Dämmerung still. Wir fuhren bei Limone
vorbei, dessen Berggärten, terrassenweise angelegt und mit Zitronenbäumen
bepflanzt, ein reiches und reinliches Ansehn geben. Der ganze Garten besteht
aus Reihen von weißen viereckigen Pfeilern, die in einer gewissen Entfernung
voneinander stehen und stufenweis den Berg hinaufrücken. Über diese Pfeiler
sind starke Stangen gelegt, um im Winter die dazwischen gepflanzten Bäume zu
decken. Das Betrachten und Beschauen dieser angenehmen Gegenstände ward
durch eine langsame Fahrt begünstigt, und so waren wir schon an Malcesine
vorbei, als der Wind sich völlig umkehrte, seinen gewöhnlichen Tagweg nahm
und nach Norden zog. Das Rudern half wenig gegen die übermächtige Gewalt,
und so mußten wir im Hafen von Malcesine landen. Es ist der erste
venezianische Ort an der Morgenseite des Sees. Wenn man mit dem Wasser zu
tun hat, kann man nicht sagen, ich werde heute da oder dort sein. Diesen
Aufenthalt will ich so gut als möglich nutzen, besonders das Schloß zu
zeichnen, das am Wasser liegt und ein schöner Gegenstand ist. Heute im
Vorbeifahren nahm ich eine Skizze davon.
Der Gegenwind, der mich gestern in den Hafen von Malcesine trieb, bereitete
mir ein gefährliches Abenteuer, welches ich mit gutem Humor überstand und in
der Erinnerung lustig finde. Wie ich mir vorgenommen hatte, ging ich morgens
beizeiten in das alte Schloß, welches ohne Tor, ohne Verwahrung und
Bewachung jedermann zugänglich ist. Im Schloßhofe setzte ich mich dem alten
auf und in den Felsen gebauten Turm gegenüber; hier hatte ich zum Zeichnen
ein sehr bequemes Plätzchen gefunden; neben einer drei, vier Stufen erhöhten
verschlossenen Tür, im Türgewände ein verziertes steinernes Sitzchen, wie
wir sie wohl bei uns in alten Gebäuden auch noch antreffen.
Ich saß nicht lange, so kamen verschiedene Menschen in den Hof herein,
betrachteten mich und gingen hin und wider. Die Menge vermehrte sich, blieb
endlich stehen, so daß sie mich zuletzt umgab. Ich bemerkte wohl, daß mein
Zeichnen Aufsehen erregt hatte, ich ließ mich aber nicht stören und fuhr
ganz gelassen fort. Endlich drängte sich ein Mann zu mir, nicht von dem
besten Ansehen, und fragte, was ich da mache. Ich erwiderte ihm, daß ich den
alten Turm abzeichne, um mir ein Andenken von Malcesine zu erhalten. Er
sagte darauf, es sei dies nicht erlaubt, und ich sollte es unterlassen. Da
er dieses in gemeiner venezianischer Sprache sagte, so daß ich ihn wirklich
kaum verstand, so erwiderte ich ihm, daß ich ihn nicht verstehe. Er ergriff
darauf mit wahrer italienischer Gelassenheit mein Blatt, zerriß es, ließ es
aber auf der Pappe liegen. Hierauf konnt' ich einen Ton der Unzufriedenheit
unter den Umstehenden bemerken, besonders sagte eine ältliche Frau, es sei
nicht recht, man solle den Podestà rufen, welcher dergleichen Dinge zu
beurteilen wisse. Ich stand auf meinen Stufen, den Rücken gegen die Türe
gelehnt, und überschaute das immer sich vermehrende Publikum. Die
neugierigen starren Blicke, der gutmütige Ausdruck in den meisten Gesichtern
und was sonst noch alles eine fremde Volksmasse charakterisieren mag, gab
mir den lustigsten Eindruck. Ich glaubte, das Chor der Vögel vor mir zu
sehen, das ich als Treufreund auf dem Ettersburger Theater oft zum besten
gehabt. Dies versetzte mich in die heiterste Stimmung, so daß, als der
Podestà mit seinem Aktuarius herankam, ich ihn freimütig begrüßte und auf
seine Frage, warum ich ihre Festung abzeichnete, ihm bescheiden erwiderte,
daß ich dieses Gemäuer nicht für eine Festung anerkenne. Ich machte ihn und
das Volk aufmerksam auf den Verfall dieser Türme und dieser Mauern, auf den
Mangel von Toren, kurz auf die Wehrlosigkeit des ganzen Zustandes und
versicherte, ich habe hier nichts als eine Ruine zu sehen und zu zeichnen
gedacht.
Man entgegnete mir: wenn es eine Ruine sei, was denn dran wohl besonders
scheinen könne? Ich erwiderte darauf, weil ich Zeit und Gunst zu gewinnen
suchte, sehr umständlich, daß sie wüßten, wie viele Reisende nur um der
Ruinen willen nach Italien zögen, daß Rom, die Hauptstadt der Welt, von den
Barbaren verwüstet, voller Ruinen stehe, welche hundert- und aber hundertmal
gezeichnet worden, daß nicht alles aus dem Altertum so erhalten sei, wie das
Amphitheater zu Verona, welches ich denn auch bald zu sehen hoffte.
Der Podestà, welcher vor mir, aber tiefer stand, war ein langer, nicht
gerade hagerer Mann von etwa dreißig Jahren. Die stumpfen Züge seines
geistlosen Gesichts stimmten ganz zu der langsamen und trüben Weise, womit
er seine Fragen hervorbrachte. Der Aktuarius, kleiner und gewandter, schien
sich in einen so neuen und seltnen Fall auch nicht gleich finden zu können.
Ich sprach noch manches dergleichen; man schien mich gern zu hören, und
indem ich mich an einige wohlwollende Frauengesichter wendete, glaubte ich,
Beistimmung und Billigung wahrzunehmen.
Die Goethe-Büste, die heute am Fuß der Burgruine von Malcesine
an den Besuch Goethes erinnert.
Foto:
Schatir
Als ich jedoch des Amphitheaters zu Verona erwähnte, das man im Lande unter
dem Namen Arena kennt, sagte der Aktuarius, der sich unterdessen besonnen
hatte, das möge wohl gelten, denn jenes sei ein weltberühmtes römisches
Gebäude, an diesen Türmen aber sei nichts Merkwürdiges, als daß es die
Grenze zwischen dem Gebiete Venedigs und dem östreichischen Kaiserstaate
bezeichne und deshalb nicht ausspioniert werden solle. Ich erklärte mich
dagegen weitläufig, daß nicht allein griechische und römische Altertümer,
sondern auch die der mittlern Zeit Aufmerksamkeit verdienten. Ihnen sei
freilich nicht zu verargen, daß sie an diesem von Jugend auf gekannten
Gebäude nicht so viele malerische Schönheiten als ich entdecken könnten.
Glücklicherweise setzte die Morgensonne Turm, Felsen und Mauern in das
schönste Licht, und ich fing an, ihnen dieses Bild mit Enthusiasmus zu
beschreiben. Weil aber mein Publikum jene belobten Gegenstände im Rücken
hatte und sich nicht ganz von mir abwenden wollte, so drehten sie auf
einmal, jenen Vögeln gleich, die man Wendehälse nennt, die Köpfe herum,
dasjenige mit Augen zu schauen, was ich ihren Ohren anpries, ja der Podestà
selbst kehrte sich, obgleich mit etwas mehr Anstand, nach dem beschriebenen
Bilde hin. Diese Szene kam mir so lächerlich vor, daß mein guter Mut sich
vermehrte und ich ihnen nichts, am wenigsten den Efeu schenkte, der Fels und
Gemäuer auf das reichste zu verzieren schon Jahrhunderte Zeit gehabt hatte.
Der Aktuarius versetzte drauf, das lasse sich alles hören, aber Kaiser
Joseph sei ein unruhiger Herr, der gewiß gegen die Republik Venedig noch
manches Böse im Schilde führe, und ich möchte wohl sein Untertan, ein
Abgeordneter sein, um die Grenzen auszuspähen.
»Weit entfernt«, rief ich aus, »dem Kaiser anzugehören, darf ich mich wohl
rühmen, so gut als ihr, Bürger einer Republik zu sein, welche zwar an Macht
und Größe dem erlauchten Staat von Venedig nicht verglichen werden kann,
aber doch auch sich selbst regiert und an Handelstätigkeit, Reichtum und
Weisheit ihrer Vorgesetzten keiner Stadt in Deutschland nachsieht. Ich bin
nämlich von Frankfurt am Main gebürtig, einer Stadt, deren Name und Ruf
gewiß bis zu euch gekommen ist.«
»Von Frankfurt am Main!« rief eine hübsche junge Frau, »da könnt Ihr gleich
sehen, Herr Podestà, was an dem Fremden ist, den ich für einen guten Mann
halte; laßt den Gregorio rufen, der lange daselbst konditioniert hat, der
wird am besten in der Sache entscheiden können.«
Schon hatten sich die wohlwollenden Gesichter um mich her vermehrt, der
erste Widerwärtige war verschwunden, und als nun Gregorio herbeikam, wendete
sich die Sache ganz zu meinem Vorteil. Dieser war ein Mann etwa in den
Fünfzigern, ein braunes italienisches Gesicht, wie man sie kennt. Er sprach
und betrug sich als einer, dem etwas Fremdes nicht fremd ist, erzählte mir
sogleich, daß er [in Frankfurt] bei Bolongaro in Diensten gestanden und sich freue, durch
mich etwas von dieser Familie und von der Stadt zu hören, an die er sich mit
Vergnügen erinnere. Glücklicherweise war sein Aufenthalt in meine jüngeren
Jahre gefallen, und ich hatte den doppelten Vorteil, ihm genau sagen zu
können, wie es zu seiner Zeit gewesen und was sich nachher verändert habe.
Ich erzählte ihm von den sämtlichen italienischen Familien, deren mir keine
fremd geblieben; er war sehr vergnügt, manches Einzelne zu hören, z. B. daß
der Herr Allesina im Jahre 1774 seine goldene Hochzeit gefeiert, daß darauf
eine Medaille geschlagen worden, die ich selbst besitze; er erinnerte sich
recht wohl, daß die Gattin dieses reichen Handelsherrn eine geborne Brentano
sei. Auch von den Kindern und Enkeln dieser Häuser wußte ich ihm zu
erzählen, wie sie herangewachsen, versorgt, verheiratet worden und sich in
Enkeln vermehrt hätten.
Als ich ihm nun die genaueste Auskunft fast über alles gegeben, um was er
mich befragt, wechselten Heiterkeit und Ernst in den Zügen des Mannes. Er
war froh und gerührt, das Volk erheiterte sich immer mehr und konnte unserm
Zwiegespräch zuzuhören nicht satt werden, wovon er freilich einen Teil erst
in ihren Dialekt übersetzen mußte.
Zuletzt sagte er: »Herr Podestà, ich bin überzeugt, daß dieses ein braver,
kunstreicher Mann ist, wohl erzogen, welcher herumreist, sich zu
unterrichten. Wir wollen ihn freundlich entlassen, damit er bei seinen
Landsleuten Gutes von uns rede und sie aufmuntere, Malcesine zu besuchen,
dessen schöne Lage wohl wert ist, von Fremden bewundert zu sein.« Ich
verstärkte diese freundlichen Worte durch das Lob der Gegend, der Lage und
der Einwohner, die Gerichtspersonen als weise und vorsichtige Männer nicht
vergessend.
Dieses alles ward für gut erkannt, und ich erhielt die Erlaubnis, mit
Meister Gregorio nach Belieben den Ort und die Gegend zu besehen. Der Wirt,
bei dem ich eingekehrt war, gesellte sich nun zu uns und freute sich schon
auf die Fremden, welche auch ihm zuströmen würden, wenn die Vorzüge
Malcesines erst recht ans Licht kämen ...