Ich sitze in einem Straßencafé in Padua und plaudere mit italienischen
Freunden, als das Thema auf den Grund meiner Entscheidung kommt, nach
Italien zu gehen:
Ich bin aus Neugierde nach Italien gekommen, um neue Erfahrungen zu sammeln."
Und willst du in Italien bleiben?
Ich denke schon, dass ich bleiben werde.
Was in aller Welt hat dich denn dazu gebracht?"
In dieser Antwort, die ich sehr oft von Italienern gehört habe, ist die
Verwunderung desjenigen deutlich spürbar, der sich die Gründe einer
anscheinend so "unnatürlichen" Entscheidung absolut nicht vorstellen kann.
Bei all dem Durcheinander in Italien: lebt es sich da nicht viel angenehmer
in Deutschland?
Aber dann gibt es in der Runde auch jemanden, der anders darüber denkt:
Damit gibst du also zu, dass man hier in Italien besser lebt!
Eine ebenso häufige Antwort, in der sich der Stolz desjenigen ausdrückt, der
für sich und die Italiener die "bessere Lebensart" in Anspruch nimmt: Im
Grunde sind die Italiener doch sympathischer, nicht wahr? Und außerdem isst
man in Italien doch viel besser, oder etwa nicht?
Zwei Seiten der gleichen Medaille
Es ist klar, dass diese zwei Antworten im Grunde zwei Arten wieder spiegeln,
wie sich die Italiener selbst sehen. Auf der einen Seite diejenigen, die in
Italien nur die Dinge sehen, die nicht funktionieren und die - ihrer
Meinung nach - in den anderen Ländern, und besonders in Deutschland, viel
besser funktionieren. Auf der anderen Seite diejenigen, die glauben, dass
die Italiener als Volk (nicht Italien als Staat!) besser sind als alle
anderen, besonders was die Lebensart und den Geschmack in Bezug auf Kleidung
und Speisen angeht.
Diese beiden Einstellungen schließen sich keineswegs aus, im Gegenteil, sie
ergänzen sich. Oft ist es ein und dieselbe Person, die beide Urteile abgibt.
Ursache dafür ist sicher unter anderem ein gewisser
Minderwertigkeitskomplex, den viele Italiener gegenüber anderen Ländern
Europas, besonders gegenüber Deutschland, haben. Aber wenn mit Italien als
Staat "kein Staat zu machen ist", weil er aus allen Fugen kracht, dann muss
wenigstens der italienische Lebensstil besser sein als alle anderen, das
braucht man als Kompensation.
Auch viele Deutsche haben einen Komplex gegenüber Italien - natürlich aus
anderen Gründen. Der andere stellt jeweils die Realisierung der eigenen
Ideale und Wünsche dar. Jeder bewundert insgeheim den anderen, hat aber
wahrscheinlich gleichzeitig Angst, so zu werden wie er.
"Also, wo lebt man besser...?"
Meine Gesprächspartner sind jedoch hartnäckig:
Also, wo lebt man besser, in Italien oder in Deutschland?
Diese Frage bringt mich in Schwierigkeiten. Das Problem liegt in dem Wort "besser", das beliebig viele Bedeutungen
haben kann. Die Lebensqualität ist schwer zu messen und ist auf jeden Fall
etwas Subjektives. Es gibt Italiener, die Deutschland für das Reich der
Träume halten, andere die es als das Mutterland der Barbaren betrachten. Es
gibt Deutsche, die Italien und die Italiener zutiefst verachten, andere
Deutsche kriegen schon nasse Augen, wenn sie nur das Wort "Italien" hören.
Jeder hat seine eigene Vorstellung von der "besten" Lebensart.
Da ist aber immer noch jemand, der nicht locker lässt und eine eindeutige
Antwort haben will:
Aber dir persönlich, gefällt dir besser Italien oder Deutschland?
Beide Länder gefallen mir sehr!
Ist das nur eine diplomatische Antwort, um niemandem weh zu tun? Nein. Ich
fühle mich inzwischen sowohl hier (in Italien) wie auch da (in Deutschland)
sehr zu Hause. Natürlich sind die beiden Länder nicht gleich, aber man lebt
hier oder dort nicht "besser" oder "schlechter", man lebt "anders", und die
Unterschiede liegen mehr in der Mentalität als in den Dingen, die man
quantifizieren kann (Einkommen, Steuern, Inflation, Arbeitslosigkeit, Kriminalität usw.).
Jedes der beiden Länder gibt mir etwas, was mir das andere nie geben könnte
und auf das ich nicht verzichten möchte.
Je besser man ein anderes Land kennt...
Man kann in beiden Ländern gut leben, wichtig ist nur, dass man die
Unterschiede als Bereicherungen und nicht als Anomalien betrachtet. Das
bedeutet absolut nicht, dass man alles akzeptiert. Viele Dinge gefallen mir
nicht in Italien, aber es ist auch nicht sehr schwer, an Deutschland
"Fehler" zu entdecken. Alles hängt davon ab, wie man darauf reagiert. Es
gibt Italiener in Deutschland, die auch nach 25 Jahren noch miserabel
Deutsch sprechen, keinerlei Lust haben sich zu integrieren und ständig
Heimweh nach der "Mamma Italia" haben. Und ich kenne Deutsche, die nach 2-3
Jahren in Italien frustriert und desillusioniert nach Deutschland
zurückkehrten. Ob sich jemand in Italien oder in Deutschland gut oder
schlecht fühlt, das hängt mehr von seiner geistigen Flexibilität ab, als von
den objektiven Eigenschaften des Landes.
Ich bin vor allem aus Neugierde nach Italien gekommen. Ich war neugierig, in
eigener Person zu erleben, wie man in einem anderen Land mit einer anderen
Kultur lebt und arbeitet. Die Unterschiede zwischen den beiden Ländern stimulieren mich
und ich sehe, dass auch die Italiener von der Konfrontation
mit der deutschen Mentalität profitieren (wenn sie es wollen...).
Je besser man ein anderes Land kennt, desto besser versteht man sein
eigenes. Dadurch, dass ich Italien, mit all seinen Stärken und Schwächen
kennen gelernt habe, habe ich auch die guten und schlechten Seiten
Deutschlands und der Deutschen besser verstanden. Eine sehr nützliche
Erfahrung.
Das ideale Land wäre also deiner Meinung nach eine Mischung aus Deutschland und Italien?
Eigentlich schon - aber was für ein langweiliges Land wäre das - ein Land,
das keinen Platz mehr für Träume lässt, ein Land, über das man sich nicht mehr beschweren kann!