Auch die besten Fotos können nicht annähernd den überwältigenden Eindruck
wiedergeben, den dieser Tempel auf den vor ihm stehenden Besucher macht. Da sind
zunächst einmal die Dimensionen: auf einer Grundfläche von
21 x 61 m erheben sich
36 mächtige, 10 m hohe Säulen. Er besticht auch durch seine geometrische
Prezision und Ausgeglichenheit. Der Tempel wurde nicht fertiggestellt und
wirkt irgendwie "nackt". Aber vielleicht hat er gerade deshalb
eine so großartige Wirkung, weil er die Idee
eines
griechischen Tempels auf das Essentielle reduziert.
Seit der Einstellung der Bauarbeiten am Tempel (um
430/420 v.Chr.) wurde er nie zerstört, obwohl die Stadt Segesta in
zahlreiche Kriege verwickelt war und auch gelegentlich von den jeweiligen
Eroberern dem Erdboden gleichgemacht wurde. Er wurde auch nie, wie so oft im
Mittelalter an anderen Stellen, als Steinbruch für den Bau von Häusern und
Kirchen missbraucht. Natürlich hat die Erosion zweieinhalbtausend Jahre lang
an ihm genagt, dennoch ist er einer der besterhaltendsten
und schönsten dorischen Tempel, die wir kennen.
Dass seine Steine nie als Baumaterial für andere Gebäude gebraucht wurde,
liegt einfach daran, dass der Tempel sich ziemlich weit ab von den
nächstgelegenen Ortschaften befindet. Die einst mächtige Stadt Segesta
exisiert schon lange nicht mehr, was geblieben ist, ist nur noch ein
Ruinenfeld. Und warum wurde der Tempel während der zahlreichen Kriege nie
zerstört? Wahrscheinlich gerade deshalb, weil er unvollendet war und nie
offiziel eingeweiht worden war. Die Zerstörung eines "offiziellen" Tempels
einer eroberten Stadt war häufig eins der Mittel, um ihre Bevölkerung zu
demütigen, was jedoch nicht geweiht war, konnte auch nicht entweiht werden,
so überstand der Tempel unbeschädigt alle kriegerischen Wirren.
Möglicherweise gab es anfangs im Innern des Tempels, dessen Zweck unklar ist
und der heute völlig leer erscheint, auch eine Cella, d.h. einen
inneren Raum, der gewöhnlich einer Gottheit gewidmet war, Spuren eines
Fundaments davon wurden in den 80er Jahren des letzten Jahrunderts gefunden.
Aber der Bau der Cella wurde entweder nicht ausgeführt oder es war eine
Cella aus Holz, das die Jahrtausende nicht überlebte. Das
Hauptindiz dafür, dass der Tempelbau unterbrochen und nicht weitergeführt
worden war, ist die Tatsache, dass die Säulen noch eine mehrere Zentimeter
dicke Schutzschicht aufweisen, die normalerweise bei der Fertigstellung des
Tempels entfernt wurde, um danach die typischen senkrechten Kanneluren
formen zu können.
Der Aufstieg und Niedergang von Segesta ist eine typisch sizilianische
Geschichte. DieGriechen gründeten im 6. Jahrhundert v.Chr. mehrere Kolonien in Sizilien, unter den größeren waren Selinunt(an der Südküste Siziliens, nur
60 Kilometer von Segesta entfernt) und Syrakus(an der
weiter entfernten Ostküste). Wie auch die Griechen in den Städten des
Heimatlandes weit davon entfernt waren, friedlich zusammenzuleben (man denke
nur an die ewigen Konflikte zwischen Athen und Sparta), so standen auch die
griechischen Kolonien, die sich auf Sizilien gebildet hatten, in ständiger, oft
blutiger Fehde untereinander.
So auch Segesta und
Selinunt: Selinunt an der Südküste wollte auch
einen Hafen der Nordküste besitzen und da stand Segesta im Weg. 300 Jahre
lang bekriegten sich die beiden Städte, mit oft wechselnden Bündnispartnern:
Syrakus, Athen, Sparta, Karthago und
Rom
wurden in die Kämpfe verwickelt und oft war ein Verbündeter mal auf der
einen, mal auf der anderen Seite zu finden.
Bis in die Römerzeit konnte Segesta, nach mehrmaliger Zerstörung mit
nachfolgendem Wiederaufbau, seine Bedeutung wahren. Dann aber erreichten der
Germanenstamm der Vandalen im Zuge der Völkerwanderungen
die Insel Sizilien und zerstörten Segesta ein weiteres Mal. Damit ging die
Glanzzeit von Segesta endgültig zu Ende. Die Byzantiner, Araber,
Normannen, die Hohenstaufer, Spanier, Savoyer,Österreicherund die
Buorbonen, sie alle
waren danach für mehr oder weniger lange Zeit die Herren von Sizilien und sie alle
hinterließen mehr oder weniger deutliche Spuren in der Kultur der Inselbewohner. Aber an Segesta gingen diese
Entwicklungen weitgehend vorbei.
Nach der Zerstörung durch die Vandalen existierte noch eine kleine
mittelalterliche Ansiedlung, von der allerdings nur
Reste einer
Stadtmauer, einer
normannischen Burg und die Ruinen einer
Moschee erhalten sind. Aber bald gerieten der Ort und seine große
Vergangenheit völlig in Vergessenheit, bis im Jahr
1574
der Dominikanermönch und Historiker Tommaso Fazelloden Tempel,
das Theater und die anderen Reste griechisch-römischer Zeit wieder mit dem
Namen Segesta in Zusammenhang brachte. Heute sind der Tempel, das Theater
und die anderen Reste der Vergangenheit von Segesta als "Parco
archeologico", d.h. als besonders schützenswertes Kulturgut anerkannt.
So ungefähr muss das Bühnengebäude des Theaters ausgesehen haben
Zeichnung:
H. Wirsing
Ebenso eindrucksvoll wie der Tempel präsentiert sich das
griechische
Theater, das im 3. oder 2. Jahrhundert v. Chr. auf einer Berghöhe östlich
des Tempels errichtet wurde. Um 100 v. Chr. wurde es von den Römern umgebaut
und nach oben erweitert. Die halbkreisförmigen Zuschauerränge (maximale
Breite 63 m) sind teilweise in den Fels gehauen.
20 Sitzreihen, die
insgesamt 4.000 Menschen Platz bieten konnten, sind durch Treppenaufgänge in
sieben Blöcke unterteilt.
Ursprünglich gab es auch ein Bühnengebäude, von dem heute allerdings nur
noch die Grundmauern stehen und so von den Rängen einen herrlichen Blick auf
Castellammare del Golfo gestatten. Im Theater, das inzwischen restauriert
wurde, finden heute im Sommer Freiluftaufführungen statt, die wegen der
suggestiven Athmosphäre des Theaters und seiner herrlichen Lage sehr
geschätzt sind.
Ein anderes Zeugnis der griechischen Vergangenheit Siziliens:
Das Tal der Tempel
Die archäologischen Stätten in Agrigent gehören zu den eindrucksvollsten Zeugnissen griechischer Architektur.